Leseprobe »Operation Saat und Ernte«


Kapitel 14

Als Carlos Montega die Augen öffnete, fand er sich in einer Ecke, im inneren des großen Lastenfahrstuhls wieder. Er schüttelte benommen den Kopf und fühlte eine feuchte, höllisch schmerzende Stelle hinten am Haaransatz. Was zur Hölle war eigentlich passiert und wie kam er hier herein? Um Ihn herum war es dunkel und stickig. Er blieb ganz ruhig und versuchte möglichst flach zu atmen, denn den Geräuschen nach zu urteilen, war er nicht allein da drinnen. Dieser Mistkerl…, dachte er. Wie konnte er auch nur wieder so blöd sein? Kein Wunder, dass ihn alle Kollegen für einen Schwachkopf hielten und sich keiner so richtig mit ihm anfreunden wollte. Er konnte mit den Klügeren einfach nicht mithalten und irgendwann hatte er es einfach aufgegeben ihnen nachzueifern. Er nahm ihnen das gar nicht übel, aber er fühlte sich zuweilen schon sehr einsam da unten.
Carlos hatte den Mann erst vor ein paar Tagen bei seiner Visite kennengelernt. Ein Veterinär… – Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemand etwas von einem neuen Veterinär gesagt hatte. Er konnte sich nicht mal mehr erinnern, dass sich außer ihm selbst, überhaupt irgendwer jemals für das Wohl der Tiere interessiert hätte. Für die meisten hier, waren die essbaren Arten, bloße Fleischlieferanten.
Man sortierte einen kleinen Teil von denen, die für den Verzehr geeignet schienen, aus und brachte sie mit einer der nächsten Fuhren in die Welt nach draußen. Dort landeten sie auf dem großen Viehmarkt in Puerto Real, wo sie an die Landarbeiter, gegen andere Waren eingetauscht wurden. Wenn sie aber schlachtreif waren, wurden sie direkt weiterverarbeitet um in einem der Restaurants des Landes oder hier, im Goldenen Kessel auf dem Teller zu landen. Die anderen Viecher, wurden entweder wieder zurückgeschickt oder in andere Welten umverteilt. Die urzeitlichen Untiere und die anderen Gefahrwesen brachte man ausschließlich in eine der beiden ersten Welten. Da musste Carlos immer sehr aufpassen und es waren ihm nur wenige wirklich peinliche Fehler unterlaufen, die ein Jäger anschließend wieder geraderücken musste. Er schüttelte sich. Carlos Montega verabscheute die meisten tierischen Produkte zu tiefst und in seinen Magen gehörten sie erst recht nicht hinein.
Er bevorzugte hingegen gutes Gemüse, frische Salate oder ein kräftiges Süppchen. Hin und wieder aß er auch mal Fisch, denn die wenigsten Fischarten hatten erkennbar ausgeprägte Arme oder Beine. Man konnte sich auch nicht mit ihnen unterhalten und vor allen Dingen hatten sie in der Regel keine eigenen Namen. Dass man die kranken Tiere aber von den übrigen fernhalten musste, das leuchtete ihm allerdings schon ein.
Der Veterinär hatte bei einigen der größeren Säbelzahnkatzen eine möglicherweise hochansteckende Viruserkrankung festgestellt und daher verfügt, dass die drei kranken Tiere noch heute mit dem Zug in die Zweite raussollten. Sie mussten sich also mit dem Verladen der Tiere, die Carlos durch das Spiel auf seiner Beruhigungsflöte zur Ruhe gebracht hatte, beeilen.
Der Wächter hatte das knochige Gesicht des hageren Mannes mit der langen Nase, noch genau vor Augen. Der Tierarzt schien so klug und so freundlich zu sein und er lächelte fast unentwegt. Außerdem, wer ein Herz für seine Tiere hatte, dachte er, der konnte doch gar nicht so ganz schlecht sein.  »Pfft, Scheiße! – Weit gefehlt.« Montega fluchte leise vor sich hin. Das letzte was er von dem Halunken als Freundschaftsbeweis erhalten hatte, war ein Tritt in die Weichteile und danach, mit Carlos eigener A-Flöte, einen mächtigen Schlag auf den Hinterkopf. Oh Mann und er selbst war noch so dumm gewesen, ihm die unterschiedlichen Melodien zu erklären.
Ganz langsam und ohne einen Laut von sich zu geben, versuchte er sich an der Wand in seinem Rücken aufzurichten. Irgendwo ihm gegenüber, mussten sich die Tiere befinden. Er konnte sie ganz deutlich hören und er wusste es waren drei. Zwei von ihnen vermutete er weiter rechts hinten und einer, direkt ein paar Meter vor ihm. Ein gleichmäßig ruhiges, kehliges Atmen, war zu vernehmen, wie von einem großen schlafenden Hund.
Er tastete sich vorsichtig die Wand nach links entlang. Hinter ihm war jetzt die massive, hölzerne Schiebetür. Irgendwo da, meinte er sich erinnern zu können, musste doch die verdammte Leiter sein. Hoffentlich war die nicht an der anderen Seite der Kabine. Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass die fast dreihundert Kilo schweren und beinahe drei Meter langen Raubkatzen hier so um ihn rumlungerten.
Die hatten sicher mal mindestens einige zigtausend Jahre nichts mehr zu beißen gehabt und solange sie schliefen ging‘s vielleicht, aber wehe die wurden wach. Sicher würden sie sofort das Blut riechen und ihre Augen waren perfekt für eine Jagd in der Dunkelheit angepasst.
Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der schwere Aufzug in Bewegung. Vor ihm war eine kurze, schnelle Bewegung zu spüren und es gab ein kratzendes Geräusch. Sonst blieb es, bis auf das Surren der Aufzugwinde ruhig. Endlich! Er bekam die stählerne Leiter zu fassen.
Sie führte hinauf zu einer kleinen Klappe, durch die die Techniker für Wartungsarbeiten auf das Dach des Fahrkorbs gelangen konnten.
Erstmal da rauf und raus aus dem Ding, dachte er. Wenn er den erwischen würde. – Wer war der Kerl überhaupt und was hatte der bloß vor?
Im nächsten Stockwerk sollte eigentlich entladen werden, aber die Käfigtunnel waren doch noch gar nicht vorbereitet und überall waren Leute auf dem Bahnsteig. Was für ein Schlamassel das Ganze, ärgerte er sich. Typisch, – und wer war mal wieder schuld an alledem?
Oh warte, das würde er sich noch lange anhören müssen. Das Wichtigste war jetzt aber erstmal, dass niemand da oben zu Schaden kam.
Er öffnete die Deckenluke und stieg auf das Dach. Im Fahrstuhlschacht an der Decke und jeweils an den Toren, gab es eine Notbeleuchtung. Immerhin, dachte Carlos. Ein paar wenige, dicke Kerzen, die den Schacht und die vorbeiziehenden Wände, schwach erleuchteten.
Der Aufzug kroch langsam, mit einer Geschwindigkeit von etwa einem halben Meter pro Sekunde dem zweiten Untergeschoss entgegen.
Meine Güte, wenn der da unten jetzt das Tor entriegelt, wird es sich automatisch öffnen, wenn der Fahrstuhl die Ebene erreicht und dort zum Stehen kommt. Wenn er sich doch bloß irgendwie bemerkbar machen und Mac Namara und die anderen warnen könnte. Er sah sich auf dem Dach um. Da war eine große Metallkiste, die die Techniker wohl extra hier oben gelassen hatten.
»Mal sehen, was haben wir denn da… Hammer, verschiedene Schraubenschlüssel, – nein zu klein«, schnaufte er. Carlos drehte die Kiste auf den Kopf und der Inhalt fiel scheppernd auf das Dach der Kabine. »Mist!« Er hielt inne und lauschte. Nichts war von unten zu hören. Er hob den Luken Deckel etwas an, konnte aber im dunklen Inneren nichts erkennen. Puh, dachte er, ich muss vorsichtiger sein. Der Fahrstuhl passierte die Ebene des zweiten Untergeschosses und setzte langsam seine Fahrt fort. »Was soll das denn jetzt?«, flüsterte er zu sich selbst.
Eins weiter oben, im ersten Untergeschoss, stand doch noch der Zug mit den Neuen. Das war eine Sackgasse, denn die Wagen standen ja praktisch direkt vor dem Tor und durften erst abgekoppelt werden, wenn die von der Patrouille alle Stockwerke inspiziert hatten.
Die Neuen sollten dann ja auch zu ihm nach unten damit er sie sortieren und wegschließen konnte. Etwas weiter vor ihm sah er ein großes Stemmeisen liegen. Damit muss ich doch irgendwas anfangen können, dachte er gerade, als er von unten plötzlich das Spiel der anderen Flöte vernahm. Es war die Melodie, die er immer spielte um die Tiere aus dem ruhigen Dämmerzustand, in die er sie für den Transport mit seiner Beruhigungsflöte versetzte, zurückzuholen. Die Tiere erwachten langsam, aber beinahe gleichzeitig und kurz darauf, brach unter ihm im Fahrkorb die Hölle los. Orientierungslos oder gar verängstigt schienen sie nicht zu sein, eher in froher Erwartung auf eine leckere Mahlzeit.
Es war sicher sein Geruch, der ihn verraten hatte und den Geräuschen nach zu urteilen, versuchten sie an den Wänden empor zu springen.
»Könnt ihr vergessen, Freunde. Das sind an die zehn Meter, bis zur Decke. Könnt`s ja mal mit der Leiter probieren…«
Carlos fühlte sich für den Moment einigermaßen sicher. Die Tiere veranstalteten mit ihrem Gebrüll einen furchtbaren Lärm und der Aufzug geriet leicht ins Schlingern, als sie mit ihrem vollen Gewicht und dem mächtigen Schädel gegen die Wände und das Tor rammten.
Er hob das massive Stemmeisen auf und schaute nach oben. An der Decke des Schachts drehte sich langsam das große Aufzugrad.
Irgendwie müsste das Ding doch zu blockieren sein, aber was, wenn eines der Seile riss? Die Zugtiere im Tiefgeschoss würden sicher nicht einfach stehenbleiben und es gab keinerlei Fallsicherungen. Trotzdem, er musste es versuchen. Wenn die Tiere auf den Bahnsteig gelangten oder schlimmer noch in das Treppenhaus oder den Gang zur »Großen Halle«, das wäre nicht auszudenken. Von ein paar Wächtern mal abgesehen, war da oben im Moment niemand der sich ihnen entgegenstellen konnte und ein Armbrustbolzen würde die Tiere ganz sicher nicht stoppen. Eine schwere Bewaffnung, wie man sie in der fünften Welt hatte, gab es hier nicht. Feuerwaffen und Sprengkörper waren verboten und auch nicht notwendig, da es in der hier noch nie zu einer größeren, bewaffneten Auseinandersetzung gekommen war. Die ganze Technik der sechsten Welt würde einem Menschen aus dem zwanzigsten Jahrhundert der fünften Welt, wohl veraltet vorkommen, aber sie war sauber und zuverlässig.
Die einzig wirklich gefährlichen Tiere, waren die Großkatzen, die Saurier und die Unwesen natürlich. Letztere waren wie eine Wundertüte, völlig unberechenbar… Bis heute hatten sie aber immer alles im Griff gehabt. Wenn dieser Mistkerl mir doch nur meine B-Flöte gelassen hätte, dann könnte ich sie schnell wieder ins Reich der Träume schicken. Er hielt sich mit einer Hand irgendwo fest. – Sei`s drum, ich muss es versuchen, dachte Carlos. Er holte aus und schleuderte die lange Eisenstange mit der anderen, mit aller Kraft nach oben, zwischen die Speichen des Rades. – Volltreffer. Es gab zunächst einen riesen Knall und einen kurzen Ruck, der den Korb wieder ins Schlingern brachte. Dann folgte ein fieses schleifendes, metallisches Geräusch, mit einer Reihe weiterer Knallgeräusche. Er hatte zwar getroffen, aber das Rad wollte zunächst nicht anhalten. Es drehte sich weiter und die Stange schlug wiederholt, unkontrolliert gegen Wand und Decke. Dabei bog sie sich bedrohlich, bis sie sich schließlich an der Deckenkonstruktion verkeilte und den Fahrstuhl mit einem weiteren Ruck, etwas vorzeitig zum Stehen brachte.
Geschafft, dachte der Wächter. Wenn das mal bloß hält, nicht auszudenken, wenn das Eisen durchbricht. Leider musste er aber gleich feststellen, dass seine Anstrengungen umsonst waren. Die Kabine hatte das Stockwerk schon soweit erreicht, dass das Tor nicht länger blockiert war.
Langsam glitt es zur Seite und Carlos, der durch den verbliebenen Spalt zwischen Fahrkorbdach und Türsturz auf den Bahnsteig hinunterblicken konnte, bekam eine Gänsehaut als er sah, dass sich neben den üblichen Mumien, die auf dem Bahnsteig versammelt waren, noch andere Leute auf dem Dach des Zugs befanden. Die waren quietschlebendig und sie liefen geradewegs auf ihn zu. Von den Kollegen war weit und breit niemand zu sehen. Montegas Herz begann heftig zu pochen. Jetzt hatte er vielleicht mal die Chance was richtig zu machen. Vier Meter sind für ein Smilodon durchaus machbar, vor allen Dingen bei dem Anlauf. Also musste er die Leute da raus oder besser gesagt zu sich hereinholen. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Hoffentlich würde das mit dem zusätzlichen Gewicht der Leute gehen, dachte er und musste schlucken. Wenn aber nicht, sind sowieso alle hin und ich mit. Na ja, wie sagt man? Mitgehangen, mitgefangen und da ich das verbockt habe, ist es jetzt eh egal. Andererseits fiel ihm ein, war der Fahrstuhl jetzt, ohne die Tiere, fast eine Tonne leichter geworden und fünf Erwachsene und ein Kind, das müsste eigentlich gehen.
Die Leute hatten sich flach auf das Dach des Wagens gelegt und sie schienen ersteinmal abzuwarten. Das wird euch nichts bringen, dachte er.
Sie müssen euch gar nicht sehen. Die werden euch riechen und dann kommen sie auch irgendwie da rauf.
Die fünf waren jetzt immer noch gute zweihundert Meter von ihm entfernt.
Er müsste also laut schreien, dachte Carlos und hoffen, dass sie schneller bei ihm waren, als die Viecher brauchen würden, um ganz nach oben, bis vor den Schacht zu gelangen. Der Spalt war schmal genug, da würden sie zwar ihren Kopf hindurchzwängen können, aber bis ganz an sie ran kämen sie nicht. Blieb zu hoffen, dass er nicht breiter werden würde.